![]() IDA SANDL Seit Jessica da ist, geht es besser. Die Katze tröste sie, sagt Heidi Visini, eine kleine, dunkelhaarige Frau, so schmal, dass sie fast zerbrechlich wirkt. Trost können Heidi Visini und ihr Mann Tony gut gebrauchen. Sie ist 87 Jahre alt, er 90. Seit Mitte September leben sie im Pflegeheim Seerose in Egnach. Einem Ort, an dem sie nie sein wollten. Es fehle ihnen zwar an nichts, alle seien freundlich, aber «wir gehören nicht hierher», sagt Heidi Visini. Sie fühle sich «wie im Hochsicherheitsgefängnis». Sie hätten nichts zu tun, würden meistens im Zimmer sitzen. Kritik, Inhaltsangabe & Meinung zu Wir gehören nicht hierher (OT: We Don't Belong Here, 2016) von Ghostfacelooker Wertung: 5/10 Alles zum Thema Zensur. „Wir gehören nicht hierher“ ist einer der letzten Filme mit „Star Trek“-Star Anton Yelchin, nachdem der Schauspieler im Juni 2016 bei einem Unfall. Zunehmend setzt sich in der Türkei ein konservativ-religiös geprägtes Frauenbild durch. Jetzt die DVD per Post leihen: Wir gehören nicht hierher (2017) mit Anton Yelchin von Peer Pedersen. Das Ehepaar leidet Die Mahlzeiten mit den pflegebedürftigen Heimbewohnern sind für das Ehepaar eine Qual. Manche könnten nicht mehr selbständig essen. «Es ist schlimm, das mit ansehen zu müssen, wenn man selber alt ist», sagt Heidi Visini. Tränen laufen ihr über die Wangen. Auch das Aktivierungsprogramm gefällt ihr nicht. «Neun Kegel aufstellen ist für mich Tubeli-Züüg.» Bis vor kurzem lebten Visinis im eigenen Haus mit Garten in Kesswil. Dann ist Heidi Visini gestürzt, sie kam ins Spital. Während sich die Ärzte um ihren Rücken kümmerten, passierte das nächste Unglück: Tony Visini stürzte ebenfalls. Freunde fanden ihn, als sie ihn mit einem Zmorge überraschen wollten. Auch er kam ins Spital, sogar ins Zimmer seiner Frau. Mit der Entlassung fingen die Probleme an. Der Sozialdienst des Spitals fand, es sei «undenkbar» das Ehepaar nach Hause gehen zu lassen. Die beiden seien körperlich zu schwach, ihre geistig-logischen Fähigkeiten zu eingeschränkt. Nahe Verwandte gibt es im Umkreis nicht. ![]() Das Spital habe deshalb im Pflegeheim Seerose nach einem freien Zimmer gefragt. «So etwas ist absolut üblich», sagt Beat Ammann, CEO von Seniocare. Zu dieser Gruppe gehören 29 Pflegeheime, darunter auch die Seerose. «Das sind sehr emotionale Themen.» Visinis verstehen nicht, wieso sie nicht zurück nach Kesswil dürfen. Das Haus sei altersgerecht, es gebe keine Schwellen. Im Quartier seien sie gut integriert. Freunde und Nachbarn kommen regelmässig und helfen. Man könne sich Essen liefern lassen und falls nötig, könnte die Spitex öfter kommen. Entscheid steht noch aus Der Entscheid, wo Visinis in Zukunft leben sollen, ist noch nicht gefallen. In den letzten Tagen ist das Ehepaar in der Memory Clinic in Münsterlingen abgeklärt worden. Auch davon wird es abhängen. Andreas Hildebrand, Präsident der zuständigen Kesb Arbon, ist ans Amtsgeheimnis gebunden. Er versichert aber: «Wir bemühen uns speziell in diesem Fall, alles zu tun und zu erfahren, um für die beiden Leute die für sie zumutbare Lebensform zu finden.» Die Kesb sei aber erst eingeschaltet worden, als das Paar schon in der Seerose war. Auch Beat Ammann sagt: «Mein Eindruck ist, es läuft alles sehr professionell ab.» Heidi und Tony Visini dauert es viel zu lange. Sie fühlen sich nicht ernst genommen, entmündigt. Plötzlich könnten sie nicht mehr selber entscheiden, wie sie leben möchten. «Aber es ist doch unser Leben und wir haben nicht mehr so viel Zeit.». Cool, chic und selbstbewusst – hat die Türkei keinen Platz mehr für solche Frauen? (Bild: Deniz Toprak / EPA) «Als in jener Nacht am 15. Juli die Kampfjets über unsere Köpfe hinwegdonnerten, haben wir unsere Laptops und Pässe gepackt und wollten einfach nur weg», erklärt Nil K., die dreissigjährige Grafikdesignerin aus Istanbul. Aber es sollte dann noch fünf Monate dauern, bis sie und ihr Mann diesen Entschluss in die Tat umsetzten – nicht spontan aus Angst wegen des versuchten Putschs im Sommer, sondern minuziös geplant und für immer. In dem kleinen Hinterzimmer eines Istanbuler Antiquariats hat sich Nil mit Deniz U., einer arbeitslosen Journalistin, zum Erfahrungsaustausch getroffen: Welche Möglichkeiten gibt es, um ins Ausland zu gehen, wo bewirbt man sich, welche Bedingungen bieten die verschiedenen Länder? Keine Visionen mehr Denn die Türkei macht keine guten Schlagzeilen dieser Tage: Bombenattentate, ein Putschversuch und Massenverhaftungen beherrschen die Berichterstattung. Aber das ist es nicht, was Frauen wie Nil oder die neunundvierzigjährige Deniz ins Exil treibt. ![]() Sie fühlen sich fremd in ihrer eigenen Heimat. «In diesem Sommer habe ich mich zum ersten Mal nicht getraut, Shorts zu tragen», erklärt Nil, die sich sportlich-chic und mit viel Stil kleidet. «Dabei geht es mir nicht darum, ob jemand gafft. Damit kann ich umgehen», sagt sie selbstbewusst und fügt hinzu: «Früher habe ich dann einfach gesagt, dass er nicht so blöd schauen solle, und damit war der Fall erledigt. Aber heute ist das anders: Jetzt muss ich mir den Vorwurf gefallen lassen, dass ich mich aufreizend kleide.» In der Tat war eine junge Frau im Sommer aus einem Bus der öffentlichen Verkehrsbetriebe geworfen worden, nachdem ein anderer Fahrgast sie wegen ihrer Kleidung tätlich angegriffen hatte. Er hatte sich durch ihre kurzen Hosen provoziert gefühlt. Nil illustriert das konservative Wertesystem, das sich in der Türkei zunehmend durchsetzt, mit einer anderen jüngst erlebten Szene: «Ein Mann fragte mich nach dem Weg, und nachdem ich ihm Auskunft gegeben hatte, pflaumte er mich an und fragte, warum ich kein Kopftuch trage», erzählt die junge Frau, deren Haar lang, glänzend und kupferfarben ist. Doch das allein wäre noch kein Grund für sie, in die Fremde zu gehen: «Ich bin Grafikdesignerin. Aber in der Türkei hat niemand mehr eine Vision – als Kreative bin ich hier total eingeschränkt.» Die alleinerziehende Deniz spürt die Veränderungen ebenfalls: «Ich wohne mit meiner Tochter in Cihangir, einem sehr westlich orientierten Viertel von Beyoglu, mitten in der Stadt. Aber in jüngster Zeit ist die Stimmung gekippt», erzählt sie und berichtet, dass manchmal selbsternannte Sittenwächter in ihre Nachbarschaft kommen und etwa Jugendliche bedrohen,. Stadtverwaltung und Polizei greifen dann meist nicht ein oder stellen sich sogar hinter die gewaltbereiten Täter. Beide Frauen planen ihre Heimat zu verlassen, weil sich am gesellschaftlichen Konsens etwas geändert hat. Und zwar in erster Linie, weil sie fürchten, dass sich die Rolle der Frau jetzt nicht mehr an modernen, westlichen Vorbildern orientieren soll, sondern im Rahmen der, welche die türkische Regierung pflegt, an religiös-konservativen Vorstellungen ausgerichtet werden soll. Wie Perlen einer langen, hässlichen Kette reihen sich verschiedenste Ereignisse der vergangenen Jahre aneinander. Für sich genommen drücken sie wenig aus. Aber setzt man die Einzelfälle zusammen, dann ergibt sich ein düsteres Bild, in dem sich genau der Wandel abzeichnet, der es modernen, westlich orientierten Frauen in der Türkei zunehmend schwer macht. Kinder kriegen, ruhig sein 2013 hat die Fluggesellschaft Turkish Airlines angeordnet, dass ihre Flugbegleiterinnen bei der Wahl ihres Make-ups dezent bleiben müssen. Im Folgejahr äusserte sich der damalige stellvertretende Ministerpräsident Bülent Arinc negativ darüber, dass Frauen in der Öffentlichkeit laut lachen, und im Staatsfernsehen TRT hört man schon einmal, dass schwangere Bäuche in der Öffentlichkeit nichts verloren hätten. Dabei fordert bei jeder passenden (und auch unpassenden) Gelegenheit, dass frau mindestens drei Kinder in die Welt zu setzen habe – ungeachtet der privaten oder finanziellen Situation. Frauen ohne Kinder sind nämlich, so orakelt der Präsident, «nur halb». Makellos und züchtig verhüllt - Emine Erdogan soll Vorbild für türkische Frauen sein. (Bild: Osman Orsal / Reuters) Eine parlamentarische Kommission hat im Januar dieses Jahres einen Bericht vorgestellt, wie die Scheidungsrate verringert werden könnte. Das Wohl der Frau rückt dabei zugunsten des Familienwohls in den Hintergrund. Das Schulsystem wurde im Schuljahr 2012/13 derart geändert, dass nach der vierjährigen Grundschule keine Anwesenheitspflicht mehr besteht. Dazu kam jüngst der Vorstoss der Regierungspartei AKP,. Wohlgemerkt: Da diese auf Wunsch oder mit Billigung der Eltern geschlossen werden, wird man auf solche Fälle nur dann aufmerksam, wenn das minderjährige Mädchen, statt die Schulbank zu drücken, im Kreisssaal liegt. Der Entwurf wurde zwar einstweilen auf Eis gelegt, aber das heisst nicht, dass ein ähnliches Gesetz nicht doch noch kommen wird. Der türkische Justizminister Bekir Bozdag bezieht diesbezüglich nämlich eindeutig Position. Er glaubt tatsächlich, dass man durch die Legalisierung von Kinderehen die Mädchen schützen würde. Kinderehen sind, das weiss auch Bozdag, Alltag in einem Land, in dem über 80 Prozent der Bevölkerung der Meinung sind, dass Frauen unbefleckt in die Ehe gehen sollten. Statt für eine Gesellschaft einzutreten, in der Frauen sich freier bewegen können und dazu ermuntert werden, für ihre Emanzipation zu kämpfen, kapituliert die Regierung vor den Gegebenheiten. Seyran Ates, deutsch-türkische Juristin, Frauenrechtlerin und Autorin, findet klare Worte dazu: «Sowohl die gesetzliche Lage als auch die Rechtsprechung sind nach wie vor frauendiskriminierend, um nicht zu sagen frauenverachtend. Beispielsweise gilt Vergewaltigung nicht als Angriff auf die Persönlichkeitsrechte der Frau selbst, sondern als Angriff auf die öffentliche Ordnung.» Aber als Rückbesinnung auf ein altes Wertesystem betrachtet Ates diese Entwicklungen nicht. Sie sagt: «Die Strategie von Erdogan und der AKP zeigt nun ihre wahre Natur. Die Annäherungen an die EU-Gesetzgebung und die entsprechenden Änderungen waren niemals ernst gemeint. Was jetzt geschieht, ist demzufolge keine Rückbesinnung, sondern Teil des Konzepts dieser Regierung.» Ein zweites 1968 Ihre Bilanz fällt rundum ernüchternd aus: «In der Türkei waren die Frauen noch nie wirklich frei. Auch unter Linken und Intellektuellen herrscht das Patriarchat noch in seiner Urgestalt fort. Ich habe Anwärterinnen für das Richterinnenamt und Anwältinnen kennengelernt, die mit Mitte zwanzig ohne elterliche Erlaubnis nicht zum Geburtstag einer Freundin gehen dürfen. Ich denke, das ist keine Minderheit.» Die konservativen Strukturen sind also gesellschaftsübergreifend tief in den Köpfen verankert, und um sie zu verändern, brauchte es ein radikales Bekenntnis und eisernen Willen. Seyran Ates hofft dennoch auf eine Perspektive: «Aus diesem Grunde braucht die Türkei so etwas wie einen grossen Umbruch durch eine ähnliche Bewegung wie jene der Achtundsechziger, hin zu einem freieren und mehr selbstbestimmten Leben.» Davon ist das Land aber noch weit entfernt: «Die Situation ist so schlecht, dass ich mir zurzeit leider nicht vorstellen kann, in der Türkei zu leben. Ich möchte meiner Tochter ermöglichen, ihr Leben nach ihren eigenen Wünschen und Bedürfnissen zu gestalten. Für Mädchen und junge Frauen ist die Türkei nicht das beste Land.» So sieht das auch Deniz: «Wenn es nur um mich ginge, würde ich bleiben und kämpfen. Aber ich habe eine Tochter, und die hat es verdient, frei und selbstbestimmt aufzuwachsen.» Viele, die derzeit gehen, hoffen nicht auf eine Rückkehr, sondern darauf, dass sie und ihre Kinder sich in der neuen Heimat bestens integrieren werden. In einem Land, in dem Hunderte Vereine geschlossen wurden, und friedliche Demonstrationen gewaltsam von der Staatsgewalt auseinandergetrieben werden, sehen sie keine Chance mehr, die Zukunft mitzugestalten: «Wir gehören nicht mehr hierher, und daran wird sich in absehbarer Zeit nichts ändern», sagt Nil zum Abschied. • Service • • • • • • • • • • • • • • • • Abonnement • • • • • • Marktplätze • • • • NZZ Welt • • • • • • • Zeitungen, Magazine und Portale • • • • • • • • • • • • • • NZZ Mediengruppe • • • • • • • • • • • Werbung • • • • • • • Weitere Angebote • • • • • • • • • • • • • • • • Kooperations-Angebote • • Copyright © Neue Zürcher Zeitung AG. Alle Rechte vorbehalten. Eine Weiterverarbeitung, Wiederveröffentlichung oder dauerhafte Speicherung zu gewerblichen oder anderen Zwecken ohne vorherige ausdrückliche Erlaubnis von Neue Zürcher Zeitung ist nicht gestattet.
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April 2019
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